Hauptreferate
Höner: Sportwissenschaft im Singular: Notwendigkeit oder Trugschluss?
Zum Kongress-Auftakt, ganz im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung, ging Prof. Dr. Oliver Höner dem Titel des diesjährigen Kongresses auf den Grund. In einem analytischen Herangehen kontrastierte er, ob die Sportwissenschaft im Singular eine Notwendigkeit oder ein Trugschluss sei. Er machte sich zum Ziel, 2 Perspektiven (Ethos und wissenschaftstheoretische Metatheorie) näher zu beleuchten und eine Reflexion, aber keine Lösungen anzubieten. In einem ersten Teil wurde dabei auf die Protagonisten der Geschichte der Sportwissenschaft und auf das Problem des Einheitsideals eingegangen. Anschliessend mündete dies direkt in der Darstellung des Spannungsfeldes zwischen Theorie, Empirie und Praxis im Bereich der Sportwissenschaft. „Richtigkeit“ und „Nutzbarkeit“ sowie „Grundlagen“ und „Anwendung“ können dabei als verschiedene Ansprüche an die Sportwissenschaft betrachtet werden. Nach Meinung von Carrier soll die Vereinbarung als Herausforderung betrachtet werden: „The challenge is to preserve the credibility of science and at the same time to strengthen its social relevance or responsibility“ (Carrier, 2015).
In seinen abschliessenden Gedanken ging Prof. Dr. Oliver Höner des Weiteren auf die Probleme der Einheit der Sportwissenschaft ein, welche sich aus dem multiparadigmatischen Wesen sowie dem universitären Rahmen der Sportwissenschaft ergeben und zu einer Differenzierung der Sportwissenschaft führen. Im Kontrast dazu sieht er die Sportwissenschaft aber mittlerweile als Wissenschaft, welche fest institutionalisiert ist, was sich auch in zahlreichen Publikationen, Drittmitteln und wissenschaftlichen Erfolgen widerspiegelt. Daher wurde in seinem Fazit nahegelegt, dass die Sportwissenschaft im Singular, sowohl als Notwendigkeit als auch als Trugschluss angesehen werden kann:
Als Notwendigkeit bleibt die Sportwissenschaft im Singular, wenn problem- und anwendungsorientiert gearbeitet werden soll.
Ein Trugschluss hingegen ist, dass die Sportwissenschaft als eine einheitliche Disziplin betrachtet werden kann.
Somit schloss Prof. Dr. Oliver Höner sein Hauptreferat Gauss „Die Wissenschaft ist der Freund der Praxis, nicht aber ihr Sklave.“
Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe in der Wissenschaft
In der zweiten Plenumsveranstaltung beschäftigte sich Prof. Dr. Mathias Binswanger mit dem Thema „Sinnlose Wettbewerbe – warum wir immer mehr Unsinn produzieren“. Dabei beschreibt er, wie perverse Anreize von künstlich inszenierten Wettbewerben vor allem in Forschung, Bildung und im Gesundheitswesen zur Produktion von Unsinn beitragen.
Die Produktion von „Unsinn“ erklärt er mit drei Prinzipien:
Als Marktillusion bezeichnet er die Schaffung von künstlichen Märkten, wo es eigentlich keine Märkte gibt. In einem ersten Beispiel schildert er, wie die Bevölkerung Chinas dafür prämiert wurde, Dinosaurierknochen zu sammeln. Jeder Knochen wurde mit einem finanziellen Betrag entlohnt – was dazu führte, dass gefundene Knochen in möglichst kleine Teile zerschlagen wurden. Hier zieht er eine Analogie zur heutigen Wissenschaft, in der umfangreiche Forschungsprojekte auf kleinste publizierbare Einheit verteilt werden, um einen möglichst grossen Impact zu erzielen.
Als Messbarkeitsillusion bezeichnet er die fälschliche Annahme, dass sich qualitative Leistungen mit Kennzahlen messen lassen. In einem zweiten Beispiel wird Albert Einstein aufgeführt, der nur einen einzigen wissenschaftlichen Artikel publiziert hat. Dies war aber dem Umstand geschuldet, dass er den Editor persönlich kannte. Als er einen zweiten Artikel publizieren wollte und dieser abgelehnt wurde, sagte Einstein, dass er seinen Artikel zur Publikation eingereicht habe, nicht um kritisiert zu werden. Waren Einsteins Leistungen also nicht hochwertig genug?
Als Motivationsillusion bezeichnet Binswanger das Verständnis vieler, dass Menschen Zuckerbrot und Peitsche brauchen um Höchstleistungen zu erreichen. In einem dritten Beispiel, wird beschrieben, wie sich das Blutspende-Verhalten änderte, nachdem eine Bezahlung als „Zuckerbrot“ zur Entlohnung eingeführt wurde. Die Blutspende-Rate und Blutqualität nahm ab, was auf einen Rückgang der intrinsischen Motivation zurückzuführen ist und dazu führte, dass nur noch Randgruppen, welche auf die Entlohnung angewiesen waren, zum Blutspenden gingen. Die Intrinsische Motivation wird durch ein falsches Anreizsystem verdrängt, was wiederum zu einer Qualitätsverdrängung führt.
Auf Basis der drei Prinzipien prangerte Binswanger die moderne Wissenschaft an. Er umschrieb, dass es in der modernen Wissenschaft nicht mehr um die Suche nach Wahrheit ginge, sondern einzig darum, möglichst viele Drittmittel und Publikationen zu akquirieren. Dies spiegle sich in perversen Verhaltensweisen wie der Salamitaktik (einzelne Publikationen in mehrere zerstückeln), möglichst viele Autoren pro Artikel, eine zunehmende Spezialisierung, Prostitution in Peer-Review-Verfahren (strategisches Zitieren, Beeindrucken durch Komplexität, nicht anonymes Review) sowie in Fälschung und Betrug wider.
Binswanger schliesst seinen Vortrag mit dem Verweis auf alternative Handlungsweisen, wie die Nichtmessbarkeit von Qualität zu akzeptieren, Menschen nicht als schwarze Schafe vorzuverurteilen, die subjektive Verantwortung zu stärken und nicht über die Köpfe der Beteiligten zu verweisen.