Sportwissenschaften – im Singular!

Bericht zur 8. Jahrestagung der SGS
18.-19.02.2016, am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern

Nachdem im Vorjahr die Zusammenkunft unter dem Titel „Sportwissenschaften – im Plural?“ stattgefunden hatte, wurde für die diesjährige Jahrestagung der SGS das Thema „Sportwissenschaft – im Singular!“ gewählt. Damit wurde der Ausrichtung des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Bern, welches für die Organisation und Austragung der Tagung verantwortlich zeichnete, Rechnung getragen. Dass eine integrative Sportwissenschaft nicht nur möglich, sondern durchaus gewinnbringend ist, wurde während den beiden Kongresstagen deutlich, an welchen 165 Sportwissenschaftlerinnen und Sportwissenschaftler den 3 Keynotes, 6 Best-Practice-Präsentationen, 12 thematisch sehr unterschiedlichen Sessions, 8 Präsentationen für den Young Investigator Award sowie 26 Posterbeiträgen beiwohnten. Dem Tagungspräsidenten Prof. Dr. Ernst Hossner und dem gesamten Team um Tagungsleiter Dr. André Klostermann herum sei an dieser Stelle herzlich für einen hervorragend organisierten und den wissenschaftlichen Diskurs um die (Inter)Disziplinarität der Sportwissenschaft anregenden Kongress gedankt.

Hauptreferate

Höner: Sportwissenschaft im Singular: Notwendigkeit oder Trugschluss?

Zum Kongress-Auftakt, ganz im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung, ging Prof. Dr. Oliver Höner dem Titel des diesjährigen Kongresses auf den Grund. In einem analytischen Herangehen kontrastierte er, ob die Sportwissenschaft im Singular eine Notwendigkeit oder ein Trugschluss sei. Er machte sich zum Ziel, 2 Perspektiven (Ethos und wissenschaftstheoretische Metatheorie) näher zu beleuchten und eine Reflexion, aber keine Lösungen anzubieten. In einem ersten Teil wurde dabei auf die Protagonisten der Geschichte der Sportwissenschaft und auf das Problem des Einheitsideals eingegangen. Anschliessend mündete dies direkt in der Darstellung des Spannungsfeldes zwischen Theorie, Empirie und Praxis im Bereich der Sportwissenschaft. „Richtigkeit“ und „Nutzbarkeit“ sowie „Grundlagen“ und „Anwendung“ können dabei als verschiedene Ansprüche an die Sportwissenschaft betrachtet werden. Nach Meinung von Carrier soll die Vereinbarung als Herausforderung betrachtet werden: „The challenge is to preserve the credibility of science and at the same time to strengthen its social relevance or responsibility“ (Carrier, 2015).
In seinen abschliessenden Gedanken ging Prof. Dr. Oliver Höner des Weiteren auf die Probleme der Einheit der Sportwissenschaft ein, welche sich aus dem multiparadigmatischen Wesen sowie dem universitären Rahmen der Sportwissenschaft ergeben und zu einer Differenzierung der Sportwissenschaft führen. Im Kontrast dazu sieht er die Sportwissenschaft aber mittlerweile als Wissenschaft, welche fest institutionalisiert ist, was sich auch in zahlreichen Publikationen, Drittmitteln und wissenschaftlichen Erfolgen widerspiegelt. Daher wurde in seinem Fazit nahegelegt, dass die Sportwissenschaft im Singular, sowohl als Notwendigkeit als auch als Trugschluss angesehen werden kann:

Als Notwendigkeit bleibt die Sportwissenschaft im Singular, wenn problem- und anwendungsorientiert gearbeitet werden soll.

Ein Trugschluss hingegen ist, dass die Sportwissenschaft als eine einheitliche Disziplin betrachtet werden kann.

Somit schloss Prof. Dr. Oliver Höner sein Hauptreferat Gauss „Die Wissenschaft ist der Freund der Praxis, nicht aber ihr Sklave.“
 

Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe in der Wissenschaft

In der zweiten Plenumsveranstaltung beschäftigte sich Prof. Dr. Mathias Binswanger mit dem Thema „Sinnlose Wettbewerbe – warum wir immer mehr Unsinn produzieren“. Dabei beschreibt er, wie perverse Anreize von künstlich inszenierten Wettbewerben vor allem in Forschung, Bildung und im Gesundheitswesen zur Produktion von Unsinn beitragen.
Die Produktion von „Unsinn“ erklärt er mit drei Prinzipien:

Als Marktillusion bezeichnet er die Schaffung von künstlichen Märkten, wo es eigentlich keine Märkte gibt. In einem ersten Beispiel schildert er, wie die Bevölkerung Chinas dafür prämiert wurde, Dinosaurierknochen zu sammeln. Jeder Knochen wurde mit einem finanziellen Betrag entlohnt – was dazu führte, dass gefundene Knochen in möglichst kleine Teile zerschlagen wurden. Hier zieht er eine Analogie zur heutigen Wissenschaft, in der umfangreiche Forschungsprojekte auf kleinste publizierbare Einheit verteilt werden, um einen möglichst grossen Impact zu erzielen.

Als Messbarkeitsillusion bezeichnet er die fälschliche Annahme, dass sich qualitative Leistungen mit Kennzahlen messen lassen. In einem zweiten Beispiel wird Albert Einstein aufgeführt, der nur einen einzigen wissenschaftlichen Artikel publiziert hat. Dies war aber dem Umstand geschuldet, dass er den Editor persönlich kannte. Als er einen zweiten Artikel publizieren wollte und dieser abgelehnt wurde, sagte Einstein, dass er seinen Artikel zur Publikation eingereicht habe, nicht um kritisiert zu werden. Waren Einsteins Leistungen also nicht hochwertig genug?

Als Motivationsillusion bezeichnet Binswanger das Verständnis vieler, dass Menschen Zuckerbrot und Peitsche brauchen um Höchstleistungen zu erreichen. In einem dritten Beispiel, wird beschrieben, wie sich das Blutspende-Verhalten änderte, nachdem eine Bezahlung als „Zuckerbrot“ zur Entlohnung eingeführt wurde. Die Blutspende-Rate und Blutqualität nahm ab, was auf einen Rückgang der intrinsischen Motivation zurückzuführen ist und dazu führte, dass nur noch Randgruppen, welche auf die Entlohnung angewiesen waren, zum Blutspenden gingen. Die Intrinsische Motivation wird durch ein falsches Anreizsystem verdrängt, was wiederum zu einer Qualitätsverdrängung führt.

Auf Basis der drei Prinzipien prangerte Binswanger die moderne Wissenschaft an. Er umschrieb, dass es in der modernen Wissenschaft nicht mehr um die Suche nach Wahrheit ginge, sondern einzig darum, möglichst viele Drittmittel und Publikationen zu akquirieren. Dies spiegle sich in perversen Verhaltensweisen wie der Salamitaktik (einzelne Publikationen in mehrere zerstückeln), möglichst viele Autoren pro Artikel, eine zunehmende Spezialisierung, Prostitution in Peer-Review-Verfahren (strategisches Zitieren, Beeindrucken durch Komplexität, nicht anonymes Review) sowie in Fälschung und Betrug wider.
Binswanger schliesst seinen Vortrag mit dem Verweis auf alternative Handlungsweisen, wie die Nichtmessbarkeit von Qualität zu akzeptieren, Menschen nicht als schwarze Schafe vorzuverurteilen, die subjektive Verantwortung zu stärken und nicht über die Köpfe der Beteiligten zu verweisen.

Zu Beginn des zweiten Kongresstages durfte Prof. Dr. Joan Vickers (University of Calgary, Canada) zur dritten Keynote mit dem Titel „The Quiet Eye: Does It Underlie the ‚Hot Hand’ in Sport? Applied and Theoretical Perspectives“ begrüssen. Darin zeigte sie auf, dass die Konzepte „Hot Hand“ und „Quiet Eye“ eng verknüpft sein könnten. Während in den vergangenen 30 Jahren davon ausgegangen wurde, dass die „Hot Hand“ im Sport gar nicht existieren würde, liefern jüngste Befunde von Green und Zwiebel (2015) empirische Evidenz für das Phänomen. Da das „Quiet Eye“ eine Kompetenz gekoppelte Variable ist und die „Hot Hand“ vom Können der Spieler, sowie den jüngst vergangenen Leistungen abhängt, stellte Vickers die Hypothese in den Raum, dass das „Quiet Eye“ der „Hot Hand“ zugrunde liegt. Denn das „Quiet Eye“ scheint die zeitlichen und räumlichen Informationen zu liefern, welche bei der Planung und Steuerung von Bewegungen genutzt werden. Gegen Ende ihres Vortrages zeigte Vickers Wege auf, wie die von ihr aufgestellte Hypothese untersucht werden könnte.

Passend zum Tagungsthema fand die 8. SGS mit sechs Best-Practice-Präsentationen, in welchen die erfolgreiche Zusammenarbeit von Vertretern der Praxis und der Wissenschaft bei der Lösung von Praxisproblemen aufgezeigt wurde, ihren Abschluss. Dabei wurde die Problemorientierung als besonderes Merkmal sportwissenschaftlich-interdisziplinärer Forschung herausgestellt.

In einem Impulsreferat ging Christoph Conz (Eidgenössische Hochschule für Sport Magglingen) auf die Wichtigkeit des Transfers von Wissen aus der sportwissenschaftlichen Forschung in die Sportpraxis und umgekehrt ein. Er zeigte auf, dass der Forschungsbegriff in verschiedenen Kontexten unterschiedlich gebraucht wird und es „Übersetzungsleistungen“ bedarf, um das Wissen aus der Wissenschaft und der Praxis zu verbinden.

Das zweite Referat, welches von Dr. Ralf Kredel (Universität Bern) und Dino Tartaruga (Swiss Shooting) gehalten wurde, zeigte, wie die Präzisionsleistung im Luftgewehrschiessen durch Erkenntnisse aus der Bewegungswissenschaft verbessert werden kann. Ihre Resultate machen den Einfluss von Seitenkräften auf das Schussresultat deutlich und legen eine Trainingsintervention zur Seiten-, und Anpresskraft- und Kippmomentreduktion nahe.

Es folgten die Ausführungen von Dr. Silvio Lorenzetti (ETH Zürich) und Fabian Ammann (Swiss-Ski), welche verdeutlichten, dass eine enge Korrelation zwischen der vertikalen take-off-Geschwindigkeit bei Imitationssprüngen und der Skisprungleistung besteht. Zudem zeigten die Resultate der biomechanischen Analysen, dass eine korrekte Beinlängsachse bei Imitationssprüngen mit besseren Wettkampfleistungen einher geht und deshalb im Training unbedingt zu beachten ist.

Im vierten Referat, stellten Dr. Stefan Valkanover (Universität Bern) und Regine Berger (PH Bern) das Projekt „SelbsTanz“ aus dem Bereich der schulsportbezogenen Implementationsforschung vor und beschrieben, wie es sich aus der wechselseitigen Beeinflussung von Wissenschafts- und Praxisorientierung entwickelte. In diesem Projekt wird aktuell untersucht, ob Interventionsinhalte aus dem Bewegungsfeld „Darstellen/Tanzen“ das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern zu fördern vermögen.

Im zweitletzten Referat, welches von Dr. Olivier Girard (Université de Lausanne) und Franck Brocherie (Hockey Club du Mont-Blanc) gehalten wurde, wurden Resultate einer trainingswissenschaftlichen Untersuchung zur Ermüdung nach Sprints in Teamsportarten vorgestellt. Es wurde deutlich, dass es viele verschiedene Möglichkeiten gibt, um die „repeated-sprint ability“ zu verbessern, unter anderem ein Training in der Höhe.

Mit dem Referat von Prof. Dr. Siegfried Nagel (Universität Bern) und Martin Gygax (Swiss Orienteering), in welchem sie ihre Studie im Bereich der soziologisch fundierten Verbandsentwicklungsforschung vorstellten, wurde der Best Practice Block abgeschlossen. Die Referenten machten hier noch einmal deutlich, dass die Zusammenarbeit für alle Beteiligten gewinnbringend war. So konnte Swiss Orienteering wertvolle Informationen für den aktuellen Prozess der Verbandsentwicklung erhalten, währenddem die Forschungsgruppe des ISPW die Fallstudie für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage der Professionalisierung in Sportverbänden nutzen kann.

Generalversammlung

Die 8. Ordentliche Generalversammlung der SGS wurde am Abend des 18. Februar abgehalten. Neben den üblichen Traktanden wurde diese Generalversammlung dazu verwendet, um die unter der Federführung von Prof. Dr. Ernst-Joachim Hossner und in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Sportwissenschaftlichen Gesellschaft (ÖSG) frisch gegründete wissenschaftliche Zeitschrift „Current Issues in Sport Science“ (CISS) zu „launchen“. Prof. Dr. Achim Conzelmann wurde als verdientes langjähriges Mitglied des Vorstandes verabschiedet und für seine Verdienste als Präsident verdankt. Prof. Dr. Wolfgang Taube wurde als neuer Präsident und Dr. Martin Keller als neuer Geschäftsführer gewählt.